Samstag, 14. Januar 2017

Der Abschied (eigene Gedanken)



Bildquelle: "Ein Leuchten zum Abschied"( Joujou/pixelio.de)
Das Telefon hatte gegen 22.30 Uhr geklingelt. Der Arzt war dran gewesen und er hatte ihm mitgeteilt, dass es mit seiner Mutter dem Ende zuging.
Seine Frau und er hatten schon im Bett gelegen und geschlafen. Seine Frau hatte er zu Hause gelassen, weil ja noch ihr Sohn da war, der mit knapp einem Jahr nebenan in seinem Zimmer tief und fest schlief. Er musste sich alleine auf dem Weg machen, auf diesem irgendwie "letzten Weg".
Was würde ihn erwarten, wenn er im elterlichen Haus ankam, wo seine Mutter die letzten Wochen gelegen hatte? Natürlich, seine Schwester, sein Schwager würden da sein... Die beiden, zusammen ... Er, alleine am Sterbebett seiner Mutter... Alleine, wie so oft in seinem Leben!
Ja, alleine hatte er sich oft gefühlt. Alleine in einem Frauenhaushalt, sehr oft auch als "Prellbock" zwischen Mutter und Schwester, wenn die eine sich über die andere beschwerte, was denn alles unter der Woche nicht ok war, während er seinem Studium in Lüttich nachgegangen war. Am liebsten wäre er dann gleich am Freitag Abend wieder in den Bus gestiegen, um im nächsten Ort den letzten Zug zurück nach Lüttich zu erwischen.
Das hatte sich nach der Heirat seiner Schwester zwar etwas gelegt, weil die beiden dann eben nicht mehr unter einem Dach gelebt hatten. Doch so richtig verschwunden war dieses Gefühl, vor dem Ganzen die Flucht zu ergreifen, erst, als er selbst geheiratet hatte und sein eigenes Leben geführt hatte.
Aber mehr noch als das, beschäftigte ihn der Gedanke, wie sich die letzten Stunden im Leben seiner Mutter abspielen würden.
Es würde das erste Mal sein, dass er einen Menschen förmlich in den Tod begleiten würde. Seinen Vater hatte er als kleines Kind bereits verloren; er war zu nachtschlafender Zeit ins Krankenhaus gebracht worden, ohne ein Wort des Abschieds. Man wähnte die Kinder natürlich im Schlaf, obwohl es im Hause ziemlich laut zuging, als sein Vater auf einem Stuhl kauernd den engen Treppenaufgang herunter in die Ambulanz getragen wurde.. er jedenfalls hatte alles mitbekommen: das Stöhnen seines Vaters unter den Schmerzen, das verzweifelte Jammern und Schluchzen seiner Mutter, was wohl werden würde, die Kommandos der Sanitäter, den Versuch des Hausarztes, beruhigend auf seine Mutter einzuwirken, ... Letztendlich war er auch da alleine gewesen, mit seinen 7 Jahren, voller Angst in seinem Bett. Und morgens war der Vater weg gewesen, einfach tot...
Die Fahrt in das andere Land, die andere Stadt, die früher einmal sein Zuhause gewesen war, zog sich hin... Erst die Autobahn, dann das Hochmoor, das zu dieser Zeit mit seinen hoch in den Nachthimmel ragenden Tannen, die den Straßenrand säumten und mit der weiten, im Mondschein schimmernden Hochebene, sehr unheimlich war, gefolgt von etlichen Serpentinen runter ins Tal, die eine gefährlicher als die andere, besonders heute, wo er alles andere als aufs Fahren konzentriert war.
Doch er kam heil an.
Es kostete ihn einige Überwindung, zu klingeln.. Er zögerte noch, als die Haustür bereits aufging.. Sein Schwager hatte ihn kommen sehen... Nun, jetzt gab es kein Zurück mehr; er musste ins Haus...
Seine Mutter lag im Wohnzimmer, wo sie ihr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, ein Krankenbett hatten aufstellen lassen. Den Eingang gleich links neben der Haustür mied er und folgte seinem Schwager in die Küche, wo ihn auch seine Schwester erwartete.
Es herrschte natürlich eine bedrückte Stimmung. Obwohl sie alle wussten, dass dieser Moment unausweichlich kommen würde, so erschien es ihm jetzt doch sehr plötzlich zu geschehen. Vor ein paar Tagen noch, am letzten Sonntag, hatte er seine Mutter noch besucht und es war so, als hätten die Ärzte sich in ihrer Diagnose getäuscht. Seine Mutter hatte noch mit ihnen gemeinsam am Tisch gesessen und gegessen; sie hatte noch mit seinem kleinen Sohn geschäkert, sogar noch ein paar Scherze gemacht...Und jetzt sollte alles vorbei sein?
Er war heil froh, dass der Hausarzt ihn noch in der Küche abfing, um ihn über den letzten Stand der Dinge zu informieren. Er wäre tatsächlich froh um jede Ablenkung gewesen... doch es gab keine.
Er habe alles gemacht, was er machen könne und dürfe, so der Arzt. Die Mutter habe ein starkes Herz und es könne daher noch dauern..... Sprach's und ging.
Nun war das Haus bis auf sie vier leer...
Er nahm sich ein Herz und ging ins Wohnzimmer.
Seine Mutter lag in ihrem Bett, zusammengekrümmt und aufgrund der krebsbedingten mangelnden Nahrungsaufnahme stark abgemagert. Besonders an ihrem Gesicht war es deutlich zu sehen. Das Gesicht, das früher einmal einer sehr schönen Frau gehört hatte, war jetzt eingefallen, fast nur noch Haut und Knochen. Die Atmung war sehr regelmäßig, auch wenn sie sich manchmal mehr nach einem Röcheln anhörte und er verstand, was der Hausarzt mit den Worten gemeint hatte, dass es noch dauern könne.
Er fand seine Mutter eigentlich so wie immer vor, wenn er an den letzten 10 Wochenenden nachts an ihrem Bett gewacht hatte, auf der Couch liegend, ohne Schlaf finden zu können, weil ihn die rasselnde Atmung neben den tausend Gedanken, die ihm im Kopf herumschwirrten, wach hielten.
Jetzt würde er dann wohl zum letzten Mal hier wachen...
Er hatte nun schon eine kleine Ewigkeit da gesessen, als es an der Haustür klingelte. Es waren seine Tanten, die drei Schwestern seiner Mutter, mit ihren Ehemännern. Er erinnerte sich vage daran, dass seine Schwester oder sein Schwager davon gesprochen hatten, dass die Mama vielleicht noch auf etwas/jemanden warte, bevor sie gehen könne... Scheinbar hatten sie den Gedanken Taten folgen lassen und die Verwandten angerufen.
Schnell füllte sich der Raum vom Gemurmel der Tanten, die sofort mit dem Herunterleiern von "Vater Unser" und "Gegrüßt seist Du, Maria" begonnen hatten. Irgendwie schienen sie einen Plan zu haben, was in einer solchen Situation zu tun sei. Er selber hätte sich viel lieber still hingesetzt, in Gedanken bei seiner Mutter...
Er konnte auch in diesem Moment nicht wirklich beten... Zu groß war seine Wut auf "Den da oben", der ihm jetzt, nachdem er ihm schon den Vater nicht gelassen hatte, nun auch noch die Mutter nehmen würde.
In seiner Vorstellung war es nicht vorgesehen, dass sie irgendwann auch mal gehen würde. Sicherlich musste er zugeben, dass dies eine sehr kindliche Sichtweise war... sie war ja wahrscheinlich auch in seinem 7-jährigen, kindlichen Gemüt geboren worden!
Nun saßen oder standen sie alle um dieses Bett und die Zeit verging, Minute für Minute, bleischwer... aus den Minuten wurden Stunden, das Gemurmel der Gebete war inzwischen verstummt, die rasselnde Atmung geblieben,...
Er saß nun am Kopfende des Bettes und hatte seiner Mutter bereits mehrmals zugeflüstert, ihre Hand in der seinen haltend: "Mama, lass los.. Alles ist gut, uns geht es gut, Du hast für alles gesorgt.. Du darfst jetzt zu Papa! Ich liebe Dich!"
Schließlich, als die Uhr bereits nach Drei anzeigte, schien es soweit. Seine Mutter atmete immer flacher und unregelmäßiger... Er hielt immer noch ihre Hand... Die Tanten, wie auf Kommando, übernahmen wieder das Beten,.... Und dann wurde es immer stiller... seine Mama atmete nicht mehr, er erschrak, als er sah, wie sich ihre Augen nach oben in ihren Höhlen wegdrehten. Er erschrak noch mehr, als plötzlich die Atmung wieder einsetzte,... ein allerletztes Mal! Ein langes Ausatmen, eine sich senkende Brust, sich entspannende Gesichtszüge, .... es war ganz still.
Seine Mutter war gegangen...

In Gedanken an liebe Menschen, die uns schon verlassen haben...